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Channel: Wortcafé » Neues Jahr
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Frohes Neues Jahr!

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Liebe Hanne,

also, ich weiß ja nicht, was für Vorstellungen du so hast. Yoga, wie es im Westen modern ist, hat mit der ursprünglichen indischen Yogalehre nicht wirklich viel zu tun. Dieses Yoga ist erst im 19. Jahrhundert entstanden und wurde von Indern geprägt, die im Westen lebten und/oder eine westliche Bildung hatte. Die haben das dann auf die Bedürfnisse Leute im Westen hin maßgeschneidert und das ist eigentlich mehr New Age. Zack. Jetzt hab ich’s dir aber gegeben!

Es ist richtig, dass ich hier in einem Ashram bin, aber Yoga wird hier nicht praktiziert und auch nicht gelehrt. Denn du gehst ganz recht in der Annahme, dass ich von Yoga nicht so besonders viel halte. Das ist aber egal, denn das ist eine sehr individuelle Sache und jeder muss das tun, was gut für ihn ist. Und weil wir alle unterschiedliche Persönlichkeiten sind, hat auch jeder von uns andere Bedürfnisse. Deshalb ist die Welt so vielfältig und das ist auch gut so. Schade ist eigentlich nur, dass das nicht jeder versteht und die meisten Menschen, die irgendetwas für sich entdeckt haben, gleich auch noch einen missionarischen Eifer mitentdecken und meinen, Hinz und Kunz von der Großartigkeit ihrer Entdeckung überzeugen zu müssen. Leben und leben lassen, das wäre doch mal ein Vorsatz fürs neue Jahr, und deshalb sag ich auch nichts Negatives mehr über Yoga und bin gleich beim nächsten Thema: dem neuen Jahr!

Warum nehmen sich die Leute eigentlich fürs neue Jahr ständig irgendetwas vor, was sie dann am Ende doch nicht schaffen werden? Ich finde das total blöd, wenn ich etwas machen will, dann tu ich das einfach, dazu brauche ich kein neues Jahr. Doch kaum kommt ein neues Jahr, hören wieder alle auf zu rauchen und zu trinken und zu essen und stürzen sich in die Fitnessstudios. Armselig, oder? Aber da sind wir auch schon wieder beim Thema Toleranz, ich wollte ja jeden nach seiner Fasson glücklich werden lassen und habe das noch nicht mal eine Zeile lang geschafft!

Tja, also das neue Jahr: Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass wir etwas ändern müssen. Unser Café hat sich in den letzten Monaten zumindest für mich zu einer Stressfalle entwickelt und ich hätte es gerne etwas leichter. Zumal ich ja auch nicht mehr die Jüngste bin. Vielleicht sollten wir unsere Speisekarte ein bisschen vereinfachen und das Wortcafé zumindest schrittweise dahin entwickeln, was es ursprünglich sein sollte: ein literarisches Café. Ich sehne mich dringend nach mehr Ruhe und deshalb habe ich mich entschlossen, mit dir darüber zu reden und zu einer gemeinsamen Entscheidung zu finden. Und weil das nun gerade auf den Jahresanfang fällt, kann man eigentlich sagen, dass ich einen Vorsatz für das neue Jahr gefasst habe, womit ich das im letzten Absatz gesagte ad absurdum geführt habe. Und womit eigentlich alles zu dummem Geschwätz degradiert wird.

Reden ist Silber und Schweigen ist Gold, so sagt man, und um herauszufinden, ob das stimmt, habe ich in der vergangenen Woche ein Schweige-Retreat gemacht. Ich habe eine Woche lang den Mund gehalten und erst heute Abend das Schweigen wieder gebrochen. Nun wirst du den Kopf schütteln und denken, ausgerechnet Lore, wie hat sie das nur gemacht, Plappermaul, das sie ist. Aber was soll ich dir sagen, es war sehr heilsam, in die Stille zu gehen. Außer zu schweigen habe ich im Grunde den ganzen Tag lang meditiert, und zwar nicht, indem ich im Lotossitz auf einem Kissen gehockt habe. Dabei wären mir auch bloß die Beine eingeschlafen. Nein, ich habe versucht, bei allem, was ich tue, sehr bewusst zu sein und ganz genau wahrzunehmen, was ich tue. Bewusstes Haarekämmen, bewusstes Zähneputzen, bewusstes Gehen, bewusstes Pinkeln. Normalerweise gehen die Gedanken ja ständig spazieren, es geht wie bei jeder Meditation darum, sie anzuhalten, doch hierbei werden sie auf die jeweilige Tätigkeit kanalisiert. Das ist auch gar nicht einfach, denn die Gedanken sind ja ein Haufen kleiner schreiender Irrer, die lassen sich nicht so leicht bändigen.

Morgen früh reise ich zurück und bin ab Montag wieder mit dir im Café. Dann gebe ich mich wieder dem ganz normalen Wahnsinn hin und stelle mich allen Herausforderungen, die da kommen mögen. Aber mal schauen, vielleicht begleitet mich die Stille noch ein bisschen. Du wirst es ja erleben.

Sei herzlich gedrückt und hab noch ein paar schöne Tage oben im Norden

Deine Lore


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